Welche Bedeutung hat und soll man einer politischen Strömung am Rande des politischen Spektrums beimessen? Die Aktivität der Bieler RML war von kurzer Dauer (1972-1989), der Kern der Aktivist:innen umfasste ein paar Dutzend. Bei Lokalwahlen erlangte sie – auch in Allianz mit politischen Verbündeten – maximal 5% der Stimmen und somit 2 bis 3 Sitze im Bieler Stadtrat. Wir sollten jedoch nicht die gesellschaftliche Relevanz einer politischen Bewegung in Wahlresultate und Anzahl Sitze in den Legislativen oder gar Exekutiven messen. Vom Rand kommen nämlich häufig Impulse, die allmählich und häufig in abgeschwächter Form bis ins Zentrum der Politik und Gesellschaft gelangen. Dies gilt sowohl für den linken sowie rechten Rand. Dieser Prozess dauert jedoch meist Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Diejenigen, die die Impulse ausgelöst haben, sind dann meist nicht mehr aktiv bzw. im Fokus.
Ich habe viele Jahre zur Geschichte des Anarchismus geforscht. Dabei wurde mir häufig die Frage gestellt, warum man sich mit der Geschichte einer solchen Minderheitsbewegung beschäftigen soll, die stets utopische Ideen hatte und sich nicht am gesetzgeberischen Prozess beteiligte. Zudem handle es sich um eine internationale und gewaltorientierte Bewegung, ergo einer unschweizerischen. Stimmt: weder den Staat noch den Kapitalismus haben die Anarchist:innen abgeschafft, auch die Religion haben sie nicht aus der Welt geschafft. Wenn jedoch heute Begriffe wie Dezentralisierung, Autonomie, Selbstverwaltung, ziviler Ungehorsam oder direkte Aktion keine politischen Fremdwörter mehr sind, sondern Teil des politischen Diskurses und Praktiken auf allen Ebenen, dann hat dies mit den Impulsen von der äussersten (libertären) Linken zu tun. Auch die RML-Aktivist:innen wurden als Utopist:innen, Extremist:innen oder auslandgesteuerten Aufwiegler:innen gebrandmarkt. Schaut man sich jedoch mit zeitlicher Distanz die politischen Forderungen der RML der 1970er und 1980er Jahre an, so muss man feststellen, dass einiges, was damals als unrealistisch empfunden wurde, mit der Zeit gesellschaftliche und politische Mehrheiten fand. Dies betrifft u.a. feministische Forderungen nach Sexualaufklärung, freiem Zugang zu Verhütungsmitteln, Recht auf Abtreibung oder besondere Schutzmassnahme für Frauen an der Arbeit (Nachtarbeitsverbot). Auch ökologische Positionen wie dem Ausstieg aus der Atomenergie oder Tempo 30 auf den Strassen gehören dazu. Heute selbstverständliche staatliche Dienstleistungen wie ein Umschulungsrecht für Arbeitslose mussten zuerst erkämpft werden, wobei entscheidende Impulse aus dem von Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit geprägten Biel von Ende der 1970er und den 1980er Jahren und von der dortigen RML ausgingen.
Einen weiteren zentralen Grund, um sich mit der Geschichte der RML zu befassen, ist deren internationalen, bzw. transnationalen Ausrichtung. Ihr Themenfeld und Aktionsrahmen war daher nicht nur lokal sondern auch international. Man führte Kampagnen gegen Diktaturen weltweit und pflegte Kontakte zu Dissidenten, die man als Gesinnungsgenossen in der Vision eines demokratischen Sozialismus sah. Die RML pflegte den Austausch – u.a. mit gegenseitigen Besuchen – mit Dissidenten im Ostblock (in der DDR, Ungarn oder der Solidarność-Gewerkschaft in Polen) und gar aus dem maoistischen China. Neben Vietnam, Zentral- und Südamerika galt die Solidarität besonders der schwarzen Bevölkerung von Südafrika. Die Rufe nach Sanktionen bzw. Handelsverbote der Schweiz gegenüber dem Apartheidregime in Südafrika oder auch dem Militärregime von Pinochet in Chile haben ihre Parallelen zu heutigen internationalen Solidaritätsbewegungen, die sich auch in Boykott- und Sanktionsforderungen äussern. Andere Länder und Diktatoren stehen heute im Fokus, die Frage nach der Verantwortung der sogenannten neutralen Schweiz, insbesondere deren Finanz- und Rohstoffplatz, im Weltgeschehen bleibt jedoch bestehen. Dies gilt auch für das Einstehen der RML für Gesinnungsfreiheit von staatlich Angestellten, beispielsweise Lehrer:innen. Man könnte auch die Forderung nach Zugang zu medizinischer Versorgung unabhängig von der finanziellen Situation zu den Kontinuitäten im politischen Diskurs nennen. Auch im Bereich der Wirtschaft wirken die Forderungen der damals als weltfremd angesehenen RML-Aktivist:innen nicht ganz verstaubt: Eine Demokratisierung der Wirtschaft, d.h. die Beteiligung der Belegschaft an den betrieblichen Entscheiden und Gewinnen, haben sich mittlerweile mehrere Parteien und Gruppierungen auf die Fahne geschrieben. Die Bieler RML agierte im Kontext der tiefgreifenden Krisen- und Umstrukturierungsphase der Bieler Wirtschaft Ende der 1970er und 1980er Jahre. In der starken Verwurzelung in der Industrie, Bauwirtschaft oder Pflegebereich liegt wohl ein besonderes Merkmal der Bieler Aktivist:innen. Daraus entsprangen wirtschafspolitische Impulse, die die Bieler RML auszeichneten, auch gegenüber anderen Sektionen der RML bzw. POCH in der Schweiz. Davon zeugt eindrücklich die Mitwirkung der RML beim Streik in der Pianofabrik Burger & Jacobi im Jahre 1974. Es handelt sich um einen ersten grossen Streik in der Schweiz, nach einer langen Phase des sozialen Friedens. Auch dank der Organisations- und Kommunikationsarbeit der RML bekam der lokale Streik im einem kleinen Betrieb (ca. 60 Mitarbeiter) ein nationales und gar internationales Echo. Er machte Schule, denn es folgte eine Phase von Streiks in der Schweiz. Dazu trug auch der Dokumentarfilm «Ein Streik ist keine Sonntagschule» (Nina und Hans Stürm, Mathias Knauer, 1975), der nicht nur ein einzigartiges filmisches Portrait der Streikenden sondern auch der Aktivisten des Solidaritätskomitees, darunter etliche Mitglieder der Bieler RML, darstellt. Während des Streiks in der Pianofabrik träumte die RML von einer Selbstverwaltung des Betriebes, analog zur Erfahrung in der französischen Uhrenfabrik Lip in Besançon (1973-74), mit deren Fabrikbesetzer:innen die Bieler RML in intensiven Austausch stand. Ein weiteren Ausweg aus der Krise der Uhrenindustrie sah die Bieler RML in einer Verstaatlichung von systemrelevanten Unternehmen in der Uhrenbranche. Was damals in den Augen der Mehrheitsgesellschaft nach Kommunismus und Planwirtschaft klang, wird in der Folge der Covid-19 Pandemie in Zusammenhang mit den Medikamentenhersteller in der Grundversorgung diskutiert und zwar bis in die Mitte des politischen Spektrums.
Die damaligen meist jungen Aktivist:innen der RML hätten sich vor 50 Jahren kaum mit der Perspektive vertrösten lassen, dass die Zeit für ihre Ideen noch nicht reif sei, jedoch einige ihrer Ideen Jahrzehnte später – teils in abgeschwächter Form – umgesetzt werden würden. Die RML- Aktivist:innen wollten alles und zwar subito. Obwohl der Stern der RML und der späteren Gruppierungen wie der SAP oder der POCH Ende der 1980er Jahren allmählich erlosch, so brennt das Feuer in den nun im Pensionsalter steckenden ehemaligen Bieler Aktivist:innen weiter. Ich durfte als Historiker, der zu Zeiten der RML noch in den Windeln steckte, das von ihnen initiierte Erinnerungsprojekt begleiten. Ich war beeindruckt von der Zielstrebigkeit sowie des Tempos in der Umsetzung ihres Anliegens, ihr Wissen und Quellenmaterial öffentlich zugänglich zu machen. «Wir wollen eine reich ausgestattete Website zu unserer Geschichte und zwar subito!», dachten sie sich wohl in Anlehnung an ihren politischen Eifer der Jugendjahre. Dank des Engagements ehemaliger Bieler RML-Aktivist:innen haben Sie nun, werte Besucher:innen der Website, Zugang zu hunderten an Dokumenten und Zeitzeugnissen der 1970er und 1980er Jahren. Vertiefen Sie sich in die Website, Sie werden viel zu dieser – nicht zuletzt für Biel – Schlüsselphase der jüngeren Geschichte erfahren. Eine Zeit, die von grossen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen sowie politischen Umbrüchen geprägt war. Zugang ab subito, Erkenntnis braucht jedoch etwas Zeit. So ist es mit der Geschichte der RML Biel sowie mit dem «Browsen» in deren neuen Website.
Florian Eitel, Biel (6.11.2024)